Die Nacht der furchtbaren Schmerzen

Er könne sich keine, oder nur sehr schlecht Personennamen merken. Sie blieben ihm nie im Gedächtnis, hat er einmal gesagt. Vor allem hier, wo der Personendurchgangsverkehr auf so hohem Niveau läge. Zudem wäre ihm mit Erschrecken aufgefallen, dass er, wenn er mit einem Patienten sprach, nicht mehr bei ihm, sondern schon beim nächsten war. Warum er aber schneller als seine eigene Gegenwart sein konnte, wusste er nicht. Das konnte er beim besten Willen nicht benennen. Seine Zukunft schien ihm nicht präsent zu sein. Deshalb schrieb er sich auch die dritte Person zu. Schließlich könne er nur aus dieser in die Gegenwart treten. Vorläufig wär er. Ich selbst kann da nur rückständig sein. 

Er hat Nachtschicht, eine elende Arbeit. Doch als Arzt muss man da durch. Grad in der Klinik. In dieser, sowie in den anderen auch, hat sich die Arbeit über die Jahre besonders verdichtet. Die Patientenzahlen stiegen, die zur Verfügung stehende Zeit pro Patient nahm schon frühzeitig ab. Es bleibt kaum mehr genügend, um sich wenigstens um das Notwendigste zu kümmern. Dazu kommt dann noch der riesige Dokumentationsaufwand. Das belastet schon sehr. 

Wenn die Nachtschicht beginnt, geht er als erstes zur Teeküche rüber. Er rührt sich besonders viel Zucker in seinen Tee. Das hält einen wach, sagt er sich leise. Dann wiederholt er das Gesagte. Zwei, drei Mal geht das so. Irgendwann müsste es wirken, denkt er. Doch meist wird er davon nur müde. Sich etwas einreden hilft nur bedingt. Schleppt man die verrichtete Arbeit mit durch die Nächte, kann einem nichts helfen. Die Last wird zu schwer. Man zerbricht unter ihr, kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Man schleppt sich so durch. Doch die letzten Stunden sind immer die schlimmsten. Da hat man das Gefühl, untertags Erz abzubauen, es selbst und zwar kriechend auf die Erdoberfläche zu schleppen, bis einen ein Brocken zerquetscht. Es ist niemals der erste. Am Anfang hat man noch Kraft. Die aber lässt nach. Und irgendwann kann man nicht mehr … Dann geht er zum kleinen Raum rüber, um sich etwas auszuruhn.

Nach einer Stunde etwa steht der Doktor von seiner Pritsche, die eigens für Nachtschichtler wie ihn aufgestellt worden war, aber schon wieder auf, schleicht über den Flur und geht auf eine der Patiententoiletten. Er wäscht sich wie üblich sehr gründlich die Hände. Dann, nach dem Desinfizieren, betrachtet er sie, dreht sie von den Handflächen auf die Handrücken und wieder zurück. Doch fällt ihm, obwohl er annimmt, dass etwas geschehen sein müsste mit diesen, nichts auf. Seine Hände sind und blieben die seinen. Es hat sich daran rein gar nichts verändert. Es sind noch die ihm bekannten, stets zupackenden Hände. Hände, die halten, Hände, die bewahren, Hände, in denen seine Patienten gut aufgehoben sind. 

Als er am Waschbecken steht und in den vor ihm hängenden Spiegel schaut, erkennt er etwas ihm Fremdes. Erst ist es nur ein kleiner Fleck unter dem Auge. Dann, nachdem er sich die Hände getrocknet hat und wieder in den Spiegel sieht, überzieht er schon fast das ganze Gesicht. Es sieht nach einer weiteren Minute, die verstrich, weil er sich mit der rechten Hand durch seine Haare fuhr, so aus, als wär es nicht mehr das seine. Es scheint entstellt, als befände es sich bereits in der nächsten oder gar übernächsten Nacht. Es scheint ihm nun künstlich und grau. Die Nacht hat mich befallen, denkt er.

Kopfschüttelnd geht er zurück über den Flur in die Kammer. Alles ist ruhig. Er tritt ein, setzt sich aber erst an den Tisch, der in der Ecke steht. Dann stützt er die Ellenbogen auf die Tischplatte vor ihm, legt sein Kinn in die Hände und will, so lange die Ruhe anhält, versuchen, nichts zu denken. Das gelingt ihm zunächst auch relativ gut. Dann aber gehen ihm Bilder durch seinen Kopf. Eine zusammenhängende, beweglich laufende Erinnerung, die ihm, denkt er sich, nun aber auch schon wieder so vorkommt, als wäre sie eine Kopie, eine Nachstellung, oder bearbeitete Version dessen, was irgendwann vielleicht einmal war.

Dann hört er etwas. Er schreckt hoch, geht zur Tür, öffnet diese und schaut auf den Flur. Doch da ist absolut nichts. Also schließt er die Tür und setzt sich wieder zurück auf den Stuhl. Dort denkt er darüber nach, wie es wär, bei Tag durch die Flure zu gehen, wie es wär, durch die Fenster zu sehen, um draußen bestaunen zu können, was bei Nacht im Dunkeln bleibt. Erst findet er dieses Bild noch sehr schön, dann aber wirds ihm unheimlich. Dazu fällt ihm noch ein, dass er vermutlich aus ihm, wär er in diesem, ebenso nie wieder herauskommen könnte, wie aus seiner, ihn stets umgebenden Nacht, in der er nun schon so lange feststeckt. 

Er kann schon gar nicht mehr so genau sagen, wann und wie er hier überhaupt hineingeraten ist. Und ob er überhaupt raus wollte, wusste er auch nicht. Schließlich beschützt ihn die Nacht. So wie die Klinik. Bleibt er in ihr, kann er sowohl den Tag als auch das Draußen und damit das ihm Unbekannte ausschließen. Das nämlich befördert nur Ängste. Und die hielten ihn sicher unter viel schlimmeren Umständen gefangen. Hier hingegen sind ihm alle vertraut. Nur die Patienten verschwinden innerhalb bestimmter Zeiträume. Tritt er nachts in einen hinein, ist dieser ab und zu leer. Manchmal ist zwar wer da, doch der Patient hat ein anderes Gesicht. Fällt es ihm auf, spricht er ihn an und bemerkt, dass es nicht derselbe sein kann, wie noch in der letzten Nacht. Er plaudert etwas mit ihm, um in Erfahrung zu bringen, weshalb er hier liegt. Dann geht er in die Kammer an seinen Schreibtisch. Er schaltet den Computer ein und wirft einen Blick auf die Akte. Hier wird ihm dann klar, dass es sich um einen neuen handeln muss. 

Diese Vorgehensweise ist ihm mit der Zeit zur Methode geworden. Weil neue Patienten meist am Tag eingeliefert werden, bekommt er das zunächst auch nicht mit. Die Neuzugänge werden registriert und in die Datenbank eingepflegt. Die kann er jederzeit einsehen. Doch diese Art Vorwegnahme gefällt ihm überhaupt nicht. Sie erinnert ihn nämlich daran, dass auch er sich nur vorgeht. Keinesfalls will er vor der Zeit von sich wissen. Wüsste er von seinem zukünftigen Ich, änderte er aufgrund dieses Wissens womöglich noch sein Verhalten. Doch das hätte zur Folge, dass er sich niemals so vorfinden würde, wie es dem regulären Ablauf entsprechend sein müsste, ginge er den Weg mit all seinen Abzweigen, Kreuzungen, Brüchen, der seinen stets aktuellen Umständen entspricht. Er könnte sich zudem verlaufen. Und das wollte er nicht.

Er trifft den Patienten also immer erst dann, wenn er tatsächlich anwesend ist. Wüsste er vorher von ihm, spräche er nicht mit demselben. Also informiert er sich über die Umstände und das Befinden der Person erst dann, wenn er sie vorher, und zwar unvoreingenommen, also noch ohne Akteneinsicht, sah und mit ihr gesprochen hat. 

Schmerztherapie soll die Schmerzen auf ein erträgliches Maß reduzieren. Therapie folgt auf Diagnose. Aus dieser kann der behandelnde Arzt eine kausale Behandlung ableiten,. Unterstützend werden Medikamente verabreicht. Bei starken Schmerzen sind das Opioide. Sicher nur eine Krücke, um aufrecht durchstehen zu können, was durchlitten werden muss. Doch besser als das ungehemmte Leiden.

Gestern Nacht war er bei einem Patienten, den er hier schon lange betreut. Er sagte ihm nach einigen Ausführungen zum Thema Schmerz, dass dieser beim Greifen Vorsicht walten lassen soll. Denn die Hände brennen schnell durch. Warum er ihm das mit in die Nacht gab, weiß er nicht mehr genau. Dabei hätte ihm doch klar sein müssen, dass es für den Patienten unverständlich bleiben muss. Dem Gesagten fehlte der Kontext. Der Patient hörte ihm auch nicht aufmerksam zu, litt unter furchtbaren Schmerzen. Er hatte sich selber geblendet, konnte die vielen Bilder nicht mehr ertragen. 

Nach eigenen Angaben, nahm er sich sein Augenlicht, um dem Verlangen zu entfliehen. Er sagte, dass das, was er täglich auf Plakaten sähe oder sich im Fernsehen ansehen müsse, furchtbar schmerzhaft für ihn wär. Sie, diese Bilder, hätten ihn mit der Zeit in einen Zwang getrieben, der ihn erst den Tag kaum überstehen und bald auch schon nachts nicht schlafen ließ. Immer wieder traten die Bilder vor seine Augen. Immer wieder gaben sie ihm ein Versprechen, das sie nicht einlösen konnten.

Auf jeden Wortbruch folgen furchtbare Schmerzen, sagte der Doktor seinem Patienten. Doch half ihm das nicht. Er sagte nur: Herr Doktor, bitte, lassen Sie das … Schon gut, sagt er leise, wechselt ihm den Verband und bleibt noch neben dem Bett, bis sein Patient eingeschlafen ist. 

Auch er schlief bald ein. Und als er erwachte, sah er mit Schrecken, dass sein Gegenüber mit einer Wasserflaschenscherbe an sich hantierte. Er schnitt an sich herum, wär beinah verblutet. Er hatte wirklich großes Glück. 

Heute schaut er wieder nach ihm. Sein Patient ist noch schwach. Doch der Doktor nimmt sich die Zeit. Er setzt sich ans Bett, zieht ein Buch aus der Kitteltasche, sagt: Schlafen Sie nur. Ich passe auf. Dann zieht er einen Stuhl heran, setzt sich und beginnt zu lesen … Irgendwann fragt ihn sein Patient: Meinen Sie, man kann das Verlangen, also das nach dem Fleisch, kontrollieren? Ich meine, wenn ich ein unbändiges Verlangen verspüre und niemand bringt, wonach ich beinah schon giere, dann hol ich es mir. So tun es doch alle. Ist es nicht so? Ist das Verlangen erst da, wird es auch größer. Ist es erst groß, überkommt es einen irgendwie und man greift zu. Man greift nach einer Schokolade, Zigarette oder nach dem Alkohol. Wird die Lust riesengroß, besorgt man sich was. Schlimm ist eigentlich nur, und das, denke ich, ist dann auch das Krankhafte daran, dass ich mir selbst eigentlich immer mit dem letzten Bissen gleich den nächsten Appetit hole. Wie soll ich das unter Kontrolle bekommen? Was meinen Sie?  

Eine Weile ist es still im Zimmer des Patienten. Dann wiederholt er die Frage: Was meinen Sie? Nichts, sagt ihm sein Arzt. Er klappt nur sein Buch zu, erhebt sich, geht rüber zum Bett, schaltet das Licht aus und verlässt das Zimmer.

Der Doktor ist müde. Er ist nur noch ein Schatten. Grau ist der Schatten … flieht über den Flur. Sonnenstrahlen treffen die Treppe. Der Tag bricht jetzt an. Er sieht unzählige Staubteilchen fliegen. Sie steigen wie vom Licht getragen auf und verteilen sich langsam … überallhin. 

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